Geistlicher Impuls zur Eucharistie:Zur Spiritualität des Hochgebets
Gefühlt sind die Texte des eucharistischen Hochgebetes immer dieselben. Die Konsequenz ist, dass Gläubige, aber auch routinierte Priester dabei innerlich abschalten. Erst die Kommunion mit dem anschließenden Gebet empfinden viele als persönlich dichte Begegnung. In der Tat haben wir eine Kommunionfrömmigkeit. Eine Spiritualität des Hochgebetes gilt es dagegen erst neu zu entdecken. Das bekannte Gemälde „Die Anbetung des Lammes“ (1432), die Mitteltafel des Genter Altars von Jan van Eyck in der St.-Bavo-Kathedrale (siehe Abb. oben), kann wertvolle Anregungen zur persönlichen Teilnahme am Hochgebet geben.
Sich wandeln lassen
In der Mitte der Darstellung steht Christus, das Lamm Gottes. Es schaut den Betrachter direkt an. – Die Mitte des Hochgebetes bildet der Einsetzungsbericht mit den wirkmächtigen Worten Christi: „Das ist mein Leib/Blut“ (Mt 26,26.28). Jesus sagte nicht: „Das bedeutet/steht für …“, sondern er benutzt das Wort „ist“, um seine wirkliche Gegenwart auszudrücken. In der Reflexion darüber hat die Kirche die Transsubstantiationslehre entwickelt: Die äußere Gestalt der Gaben bleibt nach der Wandlung unverändert. Aber das Brot hört auf, einfach Brot zu sein, weil es ganz von Christus aufgenommen wird und durch sein Wort, durch den Heiligen Geist, durch das ganze Hochgebet zu seinem Leib wird. Ebenso der Wein zu seinem Blut. Der Priester darf kraft der Weihe die Worte Jesu in der Person Christi nachsprechen und dabei Christus die Stimme leihen. Christus ist der Hauptzelebrant. Er setzt seinen Leib und sein Blut gegenwärtig.
In der Liturgie geht es nicht nur um einen Ritus, sondern auch um dessen existenziellen Mitvollzug. Die Messe ist mehr als die Wandlung von Brot und Wein. Es geht um die eigene Wandlung, um eine „persönliche Transsubstantiation“ (Fulton Sheen), die wir innerlich mitvollziehen, wenn wir sagen: „Hier ist mein Leib – hier ist mein Blut. Nimm es hin. Das Äußere mag zwar gleich bleiben: meine Aufgaben in Alltag, Familie, Beruf, Pfarrei etc. Doch was ich bin, mein Denken, meinen Willen – nimm es hin, ergreife es und vergöttliche es.“ Unsere Tätigkeiten bleiben nach wie vor der Messe meist gleich. Doch das, was sich ändern kann, sind wir selbst.
Aus der Brust (Herz) des Lammes fließt Blut in den Kelch auf dem Altar. – Beim Kelchwort heißt es: „Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut …“ Es geht auf die Einsetzungsberichte in den drei synoptischen Evangelien und bei Paulus (1 Kor 11,23–26) zurück. Mt und Mk greifen mit „Blut des Bundes“ auf die Ratifizierung des Sinai-Bundes mit den Zehn Geboten, die auf Tafeln geschrieben waren, zurück: „Da nahm Mose das Blut, besprengte damit das Volk und sagte: Das ist das Blut des Bundes, den der Herr aufgrund all dieser Worte mit euch schließt“ (Ex 24,8). Lk und 1 Kor sprechen vom „neuen Bund“, den Jeremia verheißen hat: „Siehe, Tage kommen – Spruch des Herrn –, da schließe ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund. Er ist nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe an dem Tag, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen [vgl. Ex 24!]. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen […]. Sondern so wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des Herrn: Ich habe meine Weisung in ihre Mitte gegeben und werde sie auf ihr Herz schreiben. Ich werde ihnen Gott sein und sie werden mir Volk sein“ (Jer 31,31–33). Der Hebräerbrief (Kap. 8–9) zitiert diese Stelle wörtlich und erklärt, dass der „neue Bund“ in Christi Blut erfüllt und zugleich ein ewiger Bund ist (vgl. auch Hebr 13,20; Jer 32,40 u. ö.), der nicht mehr aufgehoben wird. Diesen Bund zwischen Christus und uns, der in der Taufe grundgelegt ist – ein achteckiger Taufbrunnen ist im Gemälde des Jan van Eyck dargestellt –, bekräftigen wir in jeder Messe. Dieser Bund umfasst vom biblischen Kontext her die „Vergebung der Sünden“ seinerseits und eine ethische Verpflichtung unsererseits.
Teilhabe an der Hingabe Christi
Hinter dem Lamm zeigen Engel das Kreuz, die Geißelsäule und die Dornenkrone. – Das Hochgebet lässt uns teilnehmen an der Hingabe Christi. Das Gebet nach dem Einsetzungsbericht spricht vom Christus-Gedächtnis (Anamnese): „Darum [bezieht sich auf ‚Tut dies zu meinem Gedächtnis‘, Anm. d. Verf.] feiern wir das Gedächtnis des Todes und der Auferstehung deines Sohnes.“ Dabei geht es nicht um bloße Erinnerung wie im Geschichtsunterricht („Damals starb Jesus …“), sondern um eine Vergegenwärtigung seiner Hingabe am Kreuz, sowohl für uns als auch an den Vater: Christi ganze Liebe, die ihn ans Kreuz geführt hat, gilt uns heute. Er gibt seinen Leib und sein Blut „für euch“, d. h. für uns. Wir schließen uns damit in dieses ein für alle Mal dargebrachte Opfer Christi am Kreuz ein (vgl. Hebr 9,25–28). An seiner Hingabe an den Vater beteiligen wir uns (auch der Einsetzungsbericht ist Gebet an den Vater: „sagte dir Lob und Dank“). Es ist kein zusätzliches Opfer. Wir geben uns vielmehr hinein in das, was Christus getan hat, in diese Dynamik zum Vater hin.
Deshalb folgt auf die Vergegenwärtigung im Hochgebet immer die Darbringung: „Darum (…) feiern wir das Gedächtnis (…) und bringen dir so das Brot des Lebens und den Kelch des Heiles dar.“ Das kleine Wörtchen „so“ ist nicht ohne Bedeutung. Im Lateinischen heißt es: „memores (…) offerimus“ – indem wir gedenken, bringen wir dar. Das Partizip Präsens „memores“ drückt Gleichzeitigkeit aus und wird im Deutschen mit „so“ ausgedrückt. Unser liturgisches Tun ist also nicht von Christi Handeln getrennt, sondern schon sprachlich eng mit ihm vereint. Das „wir“ meint dabei die ganze Gemeinde und jeden Einzelnen in ihr. Daher ist unsere Selbsthingabe Antwort auf die Selbsthingabe Christi, die wir in der Eucharistie feiern – und zwar unsere Hingabe in der Eucharistie und im Leben.
Das geschlachtete Lamm (Offb 5,6.12) steht aufrecht auf dem Altar, denn es symbolisiert den auferstandenen und erhöhten Herrn. – Die Teilnahme an Christi Hingabe ist auch Teilnahme an seiner Auferstehung, am ganzen Pascha-Mysterium. Die Eucharistie vergegenwärtigt den Auferstandenen wie bei den Emmausjüngern. Aber nicht nur Vergangenes wird Gegenwart. Zugleich greift die Liturgie voraus auf die ewige Vollendung, die eschatologische communio: „Selig, die zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen sind“ (Offb 19,9). Wir nehmen teil an der Auferstehung Christi und strecken uns bereits nach dem aus, was uns erwartet. „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils nennt die Eucharistie treffend das „Ostermahl, in dem Christus genossen, das Herz mit Gnade erfüllt und uns das Unterpfand der künftigen Herrlichkeit gegeben wird“ (SC 47). Jede Messe ist ein Ostern in uns!
Wandlung durch die Kraft des Heiligen Geistes
Mittig am oberen Bildrand sendet die Heilig-Geist-Taube ihre Strahlen auf alle aus. – Wir nehmen in jeder Messe teil am Empfang des Heiligen Geistes. Die Hochgebete weisen eine zweifache Herabrufung (Epiklese) des Geistes auf. Zuerst über die Gaben: „Sende deinen Geist auf diese Gaben herab und heilige sie, damit sie uns werden Leib und Blut deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus“ (Zweites Hochgebet). Nach dem Einsetzungsbericht auch über alle, die zur Eucharistie versammelt sind: „Stärke uns durch den Leib und das Blut deines Sohnes und erfülle uns mit seinem Heiligen Geist, damit wir ein Leib und ein Geist werden in Christus“ (Drittes Hochgebet). Wir erbeten den Heiligen Geist immer auch auf uns. Er tut sich zwar sehr leicht, Brot und Wein in Leib und Blut Christi zu wandeln. Doch viel anspruchsvoller ist, dass er uns wandelt. Das aber ist das Ziel. Dass beide Epiklesen zusammengehören, zeigt sich am Abendmahlssaal in Jerusalem. Dort fand neben dem Abendmahl auch das Pfingstereignis statt. In der Messe verbinden sich beide. Sie ist Vergegenwärtigung dessen, was Jesus beim Letzten Abendmahl eingesetzt hat, nämlich seine Hingabe für uns, die Gabe seines Lebens und seiner österlichen Gegenwart, und zugleich Vergegenwärtigung der Geistsendung. Die Eucharistie ist immer auch ein pfingstliches Ereignis.
Um den Altar herum stehen vier Gruppen von Heiligen: Jungfrauen/Märtyrerinnen, Kleriker, Laien und Mönche. – Im Hochgebet nehmen wir teil am Gebet der ganzen Kirche. In den Interzessionen (lat.: „dazwischengehen“, „eintreten für“) treten wir fürbittend und stellvertretend für die lebenden und verstorbenen Glieder der Kirche ein, außerdem für jene, „die noch fern sind von dir“, und für „alle Menschen, die mit lauterem Herzen dich suchen“ (Drittes bzw. Viertes Hochgebet). Die Gebete beginnen oft mit „Gedenke …“. Natürlich braucht Gott keine Erinnerung oder Gedankenstütze von uns. Der Kölner Liturgiewissenschaftler Theodor Schnitzler (1910–1982) gibt eine schöne etymologische Erklärung des lateinischen re-cor-dare („gedenke“, wörtlich: „wieder-[dem Herzen (cor)]-geben“): „Gott geht in sein Inneres, in sein Herz und holt von dort sein Erbarmen hervor […]. Wenn Gott sich in sich selbst zurückversenkt, so findet er dort nur die Liebe. Gottes Gedenken ist das Heil.“
Die ähnliche Formulierung „Wir bringen dar für …“ meint, dass wir die Menschen in das hineinstellen, was wir gerade feiern, nämlich in die Lebenshingabe Christi zum Heil der Welt, damit er zum Heil für sie wirkt. Unser Eintreten für andere ist getragen von Christus: Er „sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein“ (Röm 8,34). Wir nehmen teil am Gebet der Kirche, zu dem selbstverständlich auch die Heiligen gehören, die für uns eintreten. Wir beten in Einheit der weltweiten Kirche, deutlich in der Nennung des Papstes, des Ortsbischofs und der Gemeinschaft der Bischöfe. Für uns alle beten wir um Stärkung im Glauben und um Vollendung in der Liebe, für die Welt um Frieden und Heil. Ebenso gehören die Verstorbenen zur Kirche: Für sie beten wir, dass sie die ewige Gemeinschaft bei Gott erreichen – und dort beten sie für uns. In den Interzessionen entsteht ein solidarischer Kreislauf des Gebetes, an dem wir vor Ort teilhaben und der allen zum Segen wird: „Wenn du bloß betest, so betest du für dich allein. Wenn du aber für alle betest, so beten alle für dich“ (Ambrosius).
Verbindung zwischen Himmel und Erde
Im Hintergrund ist die himmlische Stadt Jerusalem zu sehen. – Wir nehmen im Hochgebet teil an der Liturgie des Himmels, mitsamt der Engel und Heiligen, die Gott Lobpreis und Dank darbringen. Eucharistie ist immer Verbindung zwischen Himmel und Erde. Das zeigt schon die Präfation: „Erhebet die Herzen!“ – „Wir haben sie beim Herrn.“ Sprechen das die Lippen oder spricht auch das Herz? Augustinus erklärt das „Erhebet die Herzen“ mit dem Kolosserbrief: „Seid ihr nun mit Christus auferweckt, so strebt nach dem, was oben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt!“ (Kol 3,1). Herz, Liebe, Gedanken wenden sich nach oben, um vor Gott zu stehen. „Prä-fation“ bedeutet nicht „Vor-rede“ zu dem Folgenden, sondern „vor (prae) Gott sprechen (fatio)“. Beim Hochgebet stehen wir also vor seinem Angesicht, mit Lob und Dank, das zum Geber erhebt. Wir verbinden uns im Sanctus mit den Engeln (vgl. Jes 6,3; Offb 4,8).
Das deutsche Wort „Hoch-Gebet“ – vom Bonner Orientalisten und Liturgiewissenschaftler Anton Baumstark (1872–1948) geprägt – meint nicht nur, dass es ein hohes und wichtiges Gebet ist, sondern entspricht auch der ostkirchlichen Bezeichnung für das Eucharistiegebet: „Anaphora“ („hoch/nach oben bringen“). Gemeint ist die Erhebung der Herzen und der Gaben zu Gott.
Die Hochgebete sprechen vielfältig vom Lob. Beim Ersten Hochgebet heißt es: „für sie bringen wir dieses Opfer des Lobes dar“ oder beim Dritten: „So bringen wir dir mit Lob und Dank dieses heilige und lebendige Opfer dar.“ Noch stärker im Vierten: „gib, dass alle, die Anteil erhalten an dem einen Brot und dem einen Kelch, ein Leib werden im Heiligen Geist, eine lebendige Opfergabe in Christus zum Lob deiner Herrlichkeit.“
Wir selbst dürfen Lob Gottes sein! Schließlich bringen wir in der Schlussdoxologie dem Vater „alle Herrlichkeit und Ehre“ dar. Wir nehmen Teil an dem Lobpreis, den Christus dem Vater dargebracht hat.
Wenn ein Priester am Genter Altar zelebrierte, hatte er dieses Bild mit all den Aspekten der Eucharistie unmittelbar vor Augen. – Joseph Ratzinger schrieb in „Der Geist der Liturgie“ (2000), dass die Kirchenväter das Hochgebet sowohl als oratio („Rede/Gebet“) als auch als actio („Handlung“) bezeichneten. „Die eigentliche ‚Aktion‘ in der Liturgie, an der wir alle teilhaben sollen, ist das Handeln Gottes selbst. […] Es geht darum, dass letztlich der Unter-schied zwischen der actio Christi und der unseren aufgehoben werde. Dass es nur eine actio gebe, die zugleich die seine und die unsrige ist – die unsrige dadurch, dass wir mit ihm ‚ein Leib und ein Geist‘ geworden sind“ (Joseph Ratzinger: Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 148 f.). Es ist der Herr, der handelt, der uns beruft, teilzuhaben an seinem Handeln, an seiner Hingabe, an seiner österlichen Existenz.
Konkret gesprochen: Man merkt einem Priester an, ob er das Hochgebet nur liest oder selbst dabei betet. Je mehr er angemessen feiert, umso leichter wird es für die Gläubigen, selbst an diesem Gebet teilzunehmen. Ars celebrandi und participatio actuosa hängen zusammen. Man merkt Gläubigen und Priestern an, ob sie wirklich vor Gott stehen – denn wir sind „berufen, vor dir zu stehen und dir zu dienen“ (vgl. Dtn 10,8) – und ob Leben und Gebet zusammengehen.
Die Szene spielt sich auf sattem, grünem Gras ab. – Ein Symbol für das Leben und die Vitalität des geistlichen Lebens, die die Begegnung mit dem Auferstandenen vermittelt.